Ein Tag am Set von LUISA

Das Langfilmdebüt der werkgruppe 2 über sexuellen Missbrauch in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung wurde im Herbst 2023 in Hildesheim gedreht.

Am Set von LUISA (von links): Julia Roesler, Celina Scharff, Sophie Arlt, Eva Löbau, Bernd Hölscher

Tanja (Katharina Bromka) ist sauer. Sie hat gerade erfahren, dass sie die Wohngruppe, in der sie mit ihrer besten Freundin Luisa lebt, verlassen soll. Ihre Eltern wollen das so. Jetzt muss die Wut raus und die junge Frau schmeißt ihre Kakteensammlung auf den Boden, tobt durchs Zimmer und lässt sich auch von Betreuerin Lea (Trixi Strobel) nicht beruhigen. Dann legt sie sich erschöpft ins Bett, greift zwei kleine Kakteen, die bei ihrem Ausbruch heil geblieben sind, und benutzt sie wie Puppen, um ihre emotionale Ausnahmesituation zu verarbeiten: „Du rastest einfach zu schnell aus, versuch doch mal ruhiger zu werden“, sagt der eine Kaktus zum anderen, der sofort darauf eingeht: „Aber ich bin so wütend auf meine Eltern.“

Das Zwiegespräch der beiden Alter Egos von Tanja geht noch einen Moment weiter, dann beendet Regisseurin Julia Roesler mit einem „Danke, aus!“ den Take. Silke Merzhäuser, Dramaturgin von LUISA, erklärt mir, dass das, was ich gerade gesehen habe, von Katharina Bromka improvisiert wurde, auch das Gespräch der Kakteen. Katharina Bromka gehört, genau wie Hauptdarstellerin Celina Scharff in der Rolle der Luisa und sieben weitere Schauspieler*innen der Produktion, zum inklusiven Kollektiv „Meine Damen und Herren“ aus Hamburg, in dem professionell arbeitende Schauspieler*innen zwischen 19 und 60 Jahren seit fast 30 Jahren zusammen Theaterstücke und Performances auf die Bühne bringen. Viele der Stücke entstehen aus Improvisationen. Das ist der Grund, warum das alle am Set von LUISA so gut können.

Die Arbeit an einem Filmset ist allerdings für viele der Schauspieler*innen neu. Daher haben Julia Roesler und Silke Merzhäuser lange vor den Dreharbeiten vorbereitende Workshops durchgeführt und mit den Schauspieler*innen intensiv geprobt. Das zahlt sich während der Dreharbeiten aus. Aber wie fügen sich die Improvisationen in das Drehbuch ein? Silke Merzhäuser erläutert, dass in den Workshops mit „Meine Damen und Herren“ auch am Drehbuch gearbeitet wurde: „Szenen und Dialoge sind entstanden und die Figuren wurden zusammen entwickelt. Doch es blieb auch Platz für Improvisationen, um die Spontanität der Schauspieler*innen für den Film zu nutzen.“ Bei den Dreharbeiten ist also maximale Flexibilität gefragt – besonders von Regisseurin Julia Roesler und Kameramann Frank Amann. Von Seiten der Produktion dagegen werden strenge Regeln eingehalten: Die Arbeitszeit der Schauspieler*innen des Kollektivs „Meine Damen und Herren“ sollte acht Stunden nicht überschreiten, Nachtdrehs und Überstunden kommen nicht vor.

Und jeder Drehtag beginnt mit einem kurzen Check in: Die Regisseurin erklärt, was auf dem Drehplan steht und geht auf die Emotionalität der Szenen ein. Doch im Check in dürfen auch Ängste vor einer Szene oder andere Dinge, die einen gerade beschäftigen geäußert werden. Denn das Thema, um das es im Film geht, ist schwierig: Sexueller Missbrauch an Frauen mit Behinderung. „Der Fakt, dass Frauen mit Behinderung 2-3 Mal so häufig von sexuellem Missbrauch betroffen sind wie Nicht-Behinderte, zeigt einen gesellschaftlichen Abgrund und ist als breit wahrgenommenes Thema deutlich unterrepräsentiert“, heißt es auf der Homepage der werkgruppe 2. Darum entsteht der Film LUISA. Gedreht wird an 34 Drehtagen in Hildesheim und Umgebung mit Schauspieler*inne mit und ohne Behinderung.

Das Hauptmotiv des Films ist das Amalie Sieveking Haus in der Diakonie im Hildesheimer Ortsteil Sorsum. Das Haus steht leer, da in der Diakonie nur noch um die 100 Menschen mit Behinderung wohnen und arbeiten, viele ehemalige Bewohner*innen leben mittlerweile in Wohngruppen in Hildesheim. Der Umzug der Bewohner*innen ist ein absoluter Glücksfall für das LUISA-Team: Hier gibt es authentische Zimmer, Bäder und Mitarbeiterbüros, die Szenenbildner Thomas Rump eingerichtet hat: „Ich habe mir die Räume angesehen als sie noch bewohnt waren und habe vom Look der Räume ganz viel in mein Konzept übertragen. Und teilweise gab es sogar noch Zahnputzbecher, Kissen und andere Deko-Gegenstände, die zurückgeblieben sind und die wir einsetzen.“ Nicht nur das Szenenbild arbeitet quasi dokumentarisch, auch Maske (Hanna Buß) und Kostümbild (Anna-Leena Rieger) schließen sich an.

Und damit passt der Look des Films perfekt zur Arbeitsweise der werkgruppe 2: Silke Merzhäuser und Julia Roesler entwickeln ihre Filme über Interviews, die sie mit Betroffenen führen und deren Stimmen dann ins Drehbuch einfließen. Im Fall von LUISA haben die Macherinnen, zu denen auch Komponistin Insa Rudolph gehört, auch lange in unterschiedlichen Einrichtungen für Menschen mit Behinderung hospitiert, um sich in das Thema einzuarbeiten. Ihr Projekt nennen sie „dokumentarischen Spielfilm“ und bleiben dem Stil ihrer Kurzfilme (u. a. MARINA, FREDDA MAYER mit Eva Löbau und Martin Schnippa die auch bei LUISA wieder dabei sind) treu.

Der Film LUISA wird von der werkgruppe2 Filmproduktion in Koproduktion mit Hanfgarn & Ufer und dem ZDF- Das kleine Fernsehspiel (Redaktion Lucia Haslau er) produziert. Das Projekt wurde von der nordmedia (Förderreferent Thomas Starte), BKM, FFA und DFFF gefördert. Das Produktionsvolumen umfasst 1,5 Mio Euro. Der Film wird bis Ende 2024 fertiggestellt und dann zunächst auf Festivals laufen, bevor er im Kino und TV zu sehen sein wird.

Cornelia Köhler